Zehn Sommer: 1994

USA 17.06.-17.07.1994

Es fällt mir gar nicht leicht, etwas zum Sommer 1994 und diesem WM-Turnier zu schreiben. Gab es wirklich eine WM? Muss wohl so sein, aber besonders intensiv habe ich sie nicht verfolgt. Die Nationalmannschaft interessierte mich fast gar nicht mehr, ich war dafür jedes Wochenende mit der Fortuna unterwegs. Das war in der Saison 1993/94 nicht mit besonderem Aufwand verbunden denn man krebste gerade in der Oberliga Nordrhein herum und alle Auswärtsspiele fanden naturgemäß einigermaßen vor der Haustür statt. Bei den Fans lief das Unternehmen Wiederaufstieg unter dem Motto Über die Dörfer Tour.  Carsten und der Vater unseres gemeinsamen Freundes Matthias bildeten den harten Kern unserer kleinen Truppe, der dann Woche für Woche durch den einen oder anderen Interessenten ergänzt wurde. Ein echter Höhepunkt war die Aufstiegsrunde zur 2. Bundesliga, die uns einige Wochen vor der WM nach Paderborn, Braunschweig und Augsburg führte.

Das Spiel in Augsburg war dabei der absolute Höhepunkt. Da hatte es doch tatsächlich ein Drittligist geschafft, 10.000 Fans dazu zu bewegen an einem Donnerstag eine rund 550km lange Reise in den Süden der Republik anzutreten. Die Atmosphäre in Stadt und Stadion war einmalig und man fühlte sich als Fan der Mannschaft auf ganz besondere Weise verbunden. So ein Zusammengehörigkeitsgefühl habe ich danach nie wieder erlebt. Meine Helden des Sommers 1994 hießen also Koch, Drazic, Buncol, Rada oder Cyron. Die Herren Illgner, Helmer oder Effenberg konnten mir gestohlen bleiben. Wer war außerdem schon dieser Berti Vogts, verglichen mit dem einzig wahren Trainer Aleksandar Ristic?

Berti Vogts 1994? Da war doch was…

Dass ein deutscher Bundestrainer derart vorgeführt wurde war bis dahin undenkbar. Nun gab Herr Vogts natürlich auch reichlich Anlass dazu denn selbst wenn man seinen Sachverstand anerkennen kann, hatte er doch niemals das Format eines klassischen Bundestrainers. Stefan Raab wurde mit diesem Song über Nacht auch außerhalb des Viva-Kosmos zum Star. Am meisten bewunderte ich sein zur Weste umgearbeitetes Nationaltrikot. Das war eigentlich die einzige Möglichkeit, dieses unsagbar hässliche Trikot einigermaßen würdevoll zu tragen.

Die deutsche Mannschaft lavierte sich mal wieder mehr schlecht als recht durch das Turnier. Im Nachhinein kann man ab und zu lesen, dass der deutsche Kader 1994 qualitativ höher einzuschätzen als der von 1990 und alle folgenden bis 2006. Na ja. Mir ist nicht ganz klar wie man zu dieser Einschätzung kommen kann. Als externer Betrachter hatte man jedenfalls ganz im Gegensatz zu 1990 wieder das Gefühl, dass da ein Haufen Handlungsreisender in Sachen Fußball versammelt war und keine Mannschaft. Dass man auch mit so einer Konstellation Weltmeister werden kann, hatte sich zwar 1974 gezeigt, zwanzig Jahre später hat das aber nicht mehr funktioniert. Zum Glück wurde der Spuk dann im Viertelfinale von Bulgarien beendet. Man möchte sich gar nicht ausmalen, dass heutzutage ein Effenberg, Basler oder Strunz mit dem Titel Weltmeister hausieren gehen könnten.

Im Sommer 1994 stand das gemeinsame Abhängen mit dem Freundeskreis für mich ganz klar im Mittelpunkt meines Interesses. Wir waren ein Kreis von bestimmt 20 Leuten, die sich mindestens jeden Freitag und Samstag trafen. Oft funktionierte das auch ohne vorherige Verabredung. Man konnte immer ungefähr ahnen, wen man wann wo antreffen würde. Das Sir John an der Münster-/Ecke Jülicher Straße war dabei unser inoffizielles Headquarter. Im Sir John regierte Wirt Klaus, der ob seines stetigen Konsums von 103 auch der blaue Klaus genannt wurde. Hier trafen wir uns zum Darts spielen und Biertrinken und wenn wir nicht hier waren, waren wir vermutlich in der Sommersprosse, einer kleinen Kneipe am Klever Platz, wo wir Flipper spielten oder…äh…Bier tranken. Im Nachhinein wäre es vermutlich keine so schlechte Idee gewesen, etwas mehr Interesse für das Studium als für Darten, Flippern und Biertrinken zu entwickeln. Nach Abitur und Zivildienst begann ich ein Lehramtsstudium in Wuppertal und studierte da so ein wenig vor mich hin. Eigentlich fand ich da alles fürchterlich. Das hässliche Unigelände, die nervtötenden Kommilitonen und überhaupt das ganze universitäre Leben. Dass ich da nicht alt werden würde war mir schnell klar, bloß fehlte es mir noch an anderen Perspektiven.

Im Kreise der oben beschriebenen, eher monothematisch angelegten Interessengemeinschaft habe ich dann das Finale zwischen Brasilien und Italien angeschaut. Mir war es eigentlich egal, wer sich hier zum Weltmeister krönen würde. Um aber wenigstens ein wenig in Stimmung zu kommen, zog ich mir mein grün-gelbes Batik-Shirt an, ein Überbleibsel aus meiner Hippiezeit, an die sonst nur noch mein langer Zopf erinnerte. Wir versammelten uns bei Ramin, dem Sohn des Gefängnisarztes der Ulmer Höh‘. Er bewohnte mit seiner Familie ein großes Haus auf der Rückseite der JVA. Das Highlight dieses Hauses war für uns die eigene Hausbar. Natürlich. So versammelten sich also die Schnapsnasen dort während sich die Fußballfans im Wohnzimmer aufhielten und mit ansehen konnten wie Brasilien das Elfmeterschießen gegen Italien für sich entschied. Mir war’s immer noch egal, ich freute mich schon längst auf die anstehende Zweitligasaison mit meiner Fortuna.

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